Ein Artikel im Weser-Kurier vom 28.01.2023:
Verdrängen, vertuschen oder ignorieren – jahrzehntelang war das oft die gängige Praxis, um mit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen umzugehen; ob nun in Familien, in der Kirche oder in Kinderheimen. Wie eine Fallstudie der Sporthochschule Köln im Auftrag der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zeigt, wollten auch die Sportvereine und -verbände häufig nichts von den Gräueltaten wissen. Zu groß war die Angst vor Imageverlusten – zum Leidwesen der Betroffenen. Bis heute haben die meisten von ihnen mit den Folgen der Übergriffe zu tun. Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht: Immer mehr Missbrauchsopfer sind bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Damit machen sie das Thema sichtbar und tragen zu dessen Enttabuisierung bei.
Dies wiederum setzt die Vereine und die Verbände unter Druck, ihre Maßnahmen zum Kinder- und Jugendschutz zu überdenken oder zu erweitern. Und tatsächlich tut sich etwas, Stück für Stück, nicht nur personell. So vergibt etwa die Bremer Sportjugend (BSJ), die Jugendorganisation des Landessportbundes Bremen (LSB), seit April vergangenen Jahres ein Kinderschutzsiegel, das jährlich erneuert werden muss. Vereine und Verbände können es beantragen, sofern sie verschiedene Kriterien erfüllen, die der Prävention vor körperlicher, psychischer, sexualisierter und verbaler Gewalt dienen. Dazu zählen zum Beispiel der Nachweis eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses und eine unterzeichnete Selbstverpflichtungserklärung (Ehrenkodex) von allen Personen, die Kinder und Jugendliche trainieren oder betreuen, sowie klare Verhaltensregeln für den Umgang mit den Schutzbedürftigen, zum Beispiel bei Torjubel. Regelmäßige Kinderschutzfortbildungen oder ein klarer Interventionsplan, der das Vorgehen bei Verdachtsfällen dokumentiert, sind weitere Voraussetzungen.
Der LSB bewertet die bisherige Resonanz auf das Siegel positiv. Fünf Vereine beziehungsweise Verbände hätten es bereits beantragt, sagt Lisa Gleis, beim Dachverband unlängst als Fachkraft für Prävention vor sexualisierter Gewalt angestellt. Außerdem seien gerade mehrere dabei, weitere Kriterien umzusetzen, um das Abzeichen zu bekommen, und „es gibt regelmäßig Anfragen von interessierten Vereinen und Verbänden, die sich von mir bei der Umsetzung beraten lassen“, teilt sie mit.
Auch der Club zur Vahr hat das Siegel bei der BSJ angefragt und kann ein von Verbänden inspiriertes und eng mit Referentinnen und Referenten abgestimmtes Jugendschutzkonzept vorweisen. Es wurde passend auf den Verein zusammengeschrieben und bewusst „in kleinen Häppchen aufbereitet, sodass man es leichter greifen kann“, sagt Vereinschef David Müller, der mit dem Ex-Basketball-Funktionär Boris Kaminski befreundet ist. Die beiden kennen sich noch aus gemeinsamen Studienzeiten.
Direkt zum Jugendschutzkonzept des Club zur Vahr
Kaminski wurde im Kindesalter von seinem ehemaligen Tennistrainer missbraucht. Er entschied sich, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, um all jenen beizustehen, die sein Schicksal mit ihm teilen. Müller lud seinen Freund später dazu ein, beim Club zur Vahr über die prägenden Lebenserfahrungen zu sprechen. „Wir wollten Betroffenheit zeigen, damit unsere Trainer und Betreuer verstehen, wie wichtig uns das Thema ist“, erklärt er und schiebt hinterher: „Es muss kategorisch ausgeschlossen werden, dass sexuelle Übergriffe stattfinden.“ Konkret bedeutet das, dass in dem Bremer Großverein beispielsweise niemand alleine mit einem Schützling im Auto zum Auswärtsspiel fahren darf. Den Preis für den organisatorischen Aufwand zahle man gerne, so Müller. Er sieht im Reflexionsprozess der Vereins- und Verbandsstrukturen eine große Chance und fasst einen Appell: „Jeder Verein oder Verband sollte sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen.“
Von Kevin Frese